2017/3 – Jürgen Werth

Leben ohne Schatten ist Leben ohne Sonne

Leben ohne Schatten ist Leben ohne Sonne
Sommer und Winter. Tag und Nacht. Wachen und Schlafen. Frieden und Krieg. Arbeit und Ruhe. Lachen und Weinen. Das Leben besteht aus solchen Gegensatzpaaren. Ich gebe zu: Manchmal würde ich gern auf das eine zugunsten des anderen verzichten. Aber hätte das andere dann noch denselben Glanz? Es wäre ja nicht mehr das andere. Es wäre das einzige. Was wäre ein strahlender Sommertag ohne den trüben Kollegen aus dem Winter! Was das Morgengrauen ohne das Grauen der Nacht! Niemand wohnt ununterbrochen auf der Sonnenseite. Nicht auf der Sonnenseite des Lebens und nicht auf der Sonnenseite des Glaubens. Es wäre auch gar nicht gesund. Bilder huschen durch meine Gedanken. Bilder meines alkoholkranken Vaters, der den Alltag unserer kleinen Familie immer wieder an den Rand der Belastbarkeit drückte. Bilder meiner dünn behäuteten Seele, die ganz plötzlich nicht mehr konnte und nicht mehr wollte und in einen befristeten Streik getreten war. Bilder unserer ersten Enkeltochter, die in der 23. Woche zur Welt kam, viel zu früh und viel zu unfertig. Würde ich ohne diese Erfahrungen einen harmonischen Abend mit der Familie genießen? Mich über eine leichte und helle Seele freuen, die Lust auf Neues hat? Lustig lärmende Kinder und Enkelkinder wertschätzen? In einem Lied auf meiner neuen CD Nahaufnahme habe ich das so formuliert:

Leben ohne Schatten ist Leben ohne Sonne.
Wer nie im Dunkeln saß, beachtet kaum das Licht.
Leben ohne Tränen ist Leben ohne Lachen.
Wer nie verzweifelt war, bemerkt das Glück oft nicht.
Leben ohne Täler ist Leben ohne Berge.
Wer nie ganz unten war, schaut gleichgültig ins Tal.
Leben ohne Zweifel ist Leben ohne Glauben.
Wer niemals sucht und fragt, dessen Antworten sind schal.
Leben ohne Mangel ist Leben ohne Fülle.
Wer immer alles hat, für den hat nichts mehr Wert.
Leben ohne Bangen ist Leben ohne Feiern.
Wer nicht mehr warten kann, hat nichts mehr, was er ehrt.


Ich will aufhören, die dunklen und kühlen Wintertage meines Lebens zu verachten. Denn sie erst lassen mich die hellen und warmen Sommertage in vollen Zügen genießen. Gott gibt immer beides. Mit warmen Händen und einem liebevollen Herzen. Er meint es gut mit uns. Immer.