Warum die Menschen aus dem Nahen Osten zu uns fliehen

Die Wiege des Christentums wird zerstört

Die Wiege des Christentums  wird zerstört
Eine Schreckensnachricht jagt die nächste. Die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ wütet im Nahen Osten. Die Bilder haben wir alle längst im Kopf. Was uns oft nicht bewusst ist: Dort steht die Wiege des christlichen Abendlandes, unserer Kultur. Und sie wird durch den IS zerstört. Andreas Knapp hat die letzten aramäischen Christen in den Flüchtlingslagern im Irak besucht und schildert seine Eindrücke.

Sie haben sich intensiv mit dem Schicksal der Christen im Orient befasst. Wie kam es dazu?

Vor etwa zwei Jahren fiel mir im Gottesdienst der katholischen Gemeinde von Leipzig-Grünau ein junger Mann auf, den ich vorher noch nie gesehen hatte. Ich sprach ihn an und erfuhr, dass er als Christ vor dem Terror des IS aus Syrien nach Deutschland geflüchtet ist. Durch ihn fand ich Kontakt zu anderen Christen aus Syrien und dem Irak, die in unserem Stadtviertel untergebracht worden waren. Diese Begegnungen machten mich auf das bewegende Schicksal der Christen im Nahen Osten aufmerksam. Seit fast 2000 Jahren blühen in der Ursprungsregion des Christentums lebendige Gemeinden. Sie haben auch eine lange Geschichte von Unterdrückung und Verfolgung durch den Islam hinter sich. Es hat mich sehr erschüttert, dass den Christen des Orients jetzt die endgültige Vertreibung droht.

Im November 2015 sind Sie selbst in den Irak gereist und haben vor Ort recherchiert. War das nicht gefährlich? Und welche Begebenheit hat Sie am meisten erschüttert?

Die Autonome Region Kurdistan im Norden des Irak galt lange als relativ sicher. Im Sommer 2014 konnte der IS die kurdischen Truppen zurückdrängen und sich dieser Region bedrohlich nähern. Während meines Aufenthaltes kam es in nicht allzu großer Entfernung zu Gefechten zwischen dem IS und den kurdischen Einheiten. Eine ständige Bedrohung stellen die Bombenattentate dar, die vor allem unschuldige Zivilisten treffen.

Sehr bewegt hat mich das Schicksal der Kinder



Sehr bewegt hat mich das Schicksal der Kinder, die nach der Vertreibung der Christen aus der Ninive-Ebene in Flüchtlingslagern leben müssen. Sie können einfach nicht verstehen, warum sie ihre Heimat verlassen mussten, und fragen ihre Eltern: „Wann gehen wir wieder heim?“ Am meisten erschüttert hat mich die Begegnung mit einem kleinen Jungen, der durch eine Autobombe einen Arm verloren hat.

Foto: Allen Kakony

Sie schreiben, da
ss nicht nur Christen aus den vom IS besetzten Gebieten fliehen, auch Muslime sind auf der Flucht. Warum sind selbst diese nicht vor dem Terror des IS sicher?

Die religiösen Minderheiten im Irak und in Syrien wie Jesiden oder Christen werden vom IS als „Ungläubige“ betrachtet und entsprechend verfolgt. Aber auch innerhalb des Islam gibt es verschiedenste Richtungen, die sich gegenseitig bekriegen. Der IS versucht, eine fundamentalistische Version des Islam durchzusetzen und bekämpft andere Richtungen, vor allem die Schiiten. Aufgrund dieser mit großer Brutalität geführten Auseinandersetzungen sind Millionen von Menschen auf der Flucht – und die große Mehrheit sind Muslime.

Sie schildern, dass gezielt Kirchen und Klöster im Irak und in Syrien zerstört werden. Warum sollte uns das in Deutschland viel stärker beschäftigen?


Der IS versucht, das Christentum dort, wo seine Wiege stand, mit Stumpf und Stiel auszurotten: Die orientalischen Christen werden ermordet oder vertrieben und die uralten Kirchen und Klöster dem Erdboden gleich gemacht. Damit geht eine reiche christliche Kultur unter, aus der auch das Christentum in Europa hervorgegangen ist. So haben beispielsweise das Mönchtum und viele Elemente unserer Liturgie und christlichen Kunst ihren Ursprung im Orient. Besonders erschütternd finde ich, dass die christlichen Gemeinden im Irak und in Syrien, die ihre Liturgie in der Muttersprache Jesu (Aramäisch) feiern, derzeit von der Ausrottung bedroht sind. Wir sollten daher alles versuchen, dieses reiche Erbe zu retten und vor allem den Glaubensgeschwistern solidarisch beizustehen. Mir persönlich ist es ein wichtiges Anliegen, dass zum Beispiel die Kinder der christlichen Flüchtlinge in Deutschland eine kirchliche Heimat finden und das kostbare Erbe ihres Glaubens, den diese Kinder mitgebracht haben, in einem säkularen Umfeld leben können.

Am 2. Juni wurde der Völkermord an aramäischen Christen in einer offiziellen Resolution vom Bundestag anerkannt. Die türkische Regierung hat heftig reagiert. Türkischstämmige Bundestagsabgeordnete haben sogar Morddrohungen erhalten. Wie bewerten Sie diese Resolution?

Ich bin sehr froh, dass mit dieser Resolution endlich auch der Deutsche Bundestag den Völkermord, der 1915 an den Christen im Osmanischen Reich verübt wurde, anerkannt und die Mitschuld des Deutschen Reiches an dieser Katastrophe eingeräumt hat. Viele Flüchtlinge, die ich kenne, erzählen mir aus ihrer Familiengeschichte, dass etwa der Großvater von den Türken bestialisch abgeschlachtet oder die Großmutter deportiert worden war. Für die Nachfahren der Opfer ist es von größter Bedeutung, dass das Leiden ihrer Großeltern endlich aus dem Schatten des Verdrängens herausgeholt wird. Leider wehrt sich die Regierung der Türkei gegen eine Aufarbeitung der Vergangenheit – und fördert damit eine Haltung, in der es zu erneuten Verfolgungen und Vertreibungen der Christen kommen kann.

Sie haben viele Kontakte zu Flüchtlingen aus dem Nahen Osten. Was wünschen sich die Menschen, die nun in Deutschland Asyl gefunden haben, vor allem?

Alle Geflüchteten, die ich kenne, leiden sehr darunter, dass sie ihre Heimat verloren haben und nun in einer fremden Kultur leben müssen. Es ist für sie schmerzlich zu erleben, wenn sie bei uns zum Spielball politischer Stimmungen werden. Sie brauchen unser Verständnis und unsere Freundschaft, damit ihre seelischen Wunden heilen und sie sich eine neue Zukunft aufbauen können.

 

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